Zukunft braucht Herkunft - Herkunft braucht Zukunft
„Allem Zukünftigen beißt das Vergangene in den Schwanz“ bemerkte Nietzsche im Hinblick auf die Frage, ob Zukunft ohne Bezugnahme auf Vergangenheit sinnvoll perspektivierbar sei. Wie aber können Zukunftsperspektiven und -szenarien entstehen, die aufgrund ihrer historischen Bedingtheit zugleich auch für Neues hinreichend offen sind– und Vorstellungshorizonte erschliessen, welche über die Grenzen bekannter Sichtweisen, Gewohnheiten und daraus gespeister Erwartungshaltungen, Ängste und Hoffnungen hinausgehen?
Bergstürze, Bergfluchten und Zentrumstäler
Diese Frage ist auch für die Auseinandersetzung mit der Zukunft des Alpenraums zentral. Hier manifestieren sich nicht nur die existenziellen Herausforderungen der Gegenwart wie der Klimawandel in besonders drastischer und anschaulicher Form. Auch der demographische Wandel und die Tendenz zur „Bergflucht“ der jüngeren Generation in städtische oder infrastrukturell gut erschlossenen, periurbane Ballungsräume bzw. „Zentrumstälern“i (Müller-Jentsch) führt zu einem markanten Strukturwandel und zu Problemen, die angesichts der spezifischen geomorphologischen Bedingungen ebenso spezifische Lösungsansätze erfordern. Das sind nur zwei Beispiele, die den notwendigen Blick auf das „Zukünftige“ in alpinen Regionen schärfen.
Stereotype und Vorstellungshorizonte
Dabei ist eine Besonderheit nicht ausser acht zu lassen: Spätestens seit der „Entdeckung“ der Alpen als Motiv der Aufklärung und der Romantik wurden sie zum imaginären Gegenkonzept einer zunehmend urbanen bürgerlichen und industrialisierten Gesellschaft. Die in diesem Prozess entstandenen Stereotype wirken bis heute fort und stellen die Frage ins Zentrum, wodurch alpine Landschaften und Lebensformen – kurz „die Alpen“ – charakterisiert sind und auch künftig charakterisiert sein sollen. Daher ist die im 19. Jahrhundert intensivierte Inszenierung der Alpen als Sehnsuchts- und Gegenraum bei der Ausbildung von Zukunftsperspektiven für den Alpenraum bestimmend.
Resonanzräume und Weltwiderstände
Das Urner Institut Kulturen der Alpen widmet sich seit seiner Entstehung 2020 der Aufgabe, die historischen Resonanzräume und die gegenwärtigen Entwicklungsdynamiken im Kulturraum „Alpen“ systematisch zu fassen, zu beschreiben, zu analysieren und in einem Gesamtzusammenhang zu diskutieren und zu vermitteln. Dabei werden kultur-, geistes- und sozialwissenschaftliche Zugänge in einem interdisziplinären Ansatz zusammengeführt und über transdisziplinäre Schnittstellen in die ausserakademische Praxis und zu deren unterschiedlichen Vertretern in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik überführt.
Kontingenzen als Potenziale
Diese Expertise wird verstärkt dafür genutzt, eine „Lesefähigkeit“ („Literacy“) zu entwickeln, die es ermöglicht, Potenziale der Zukunftsgestaltung im Zusammenhang von historischer und gegenwartsbezogener Informiertheit zu erkennen, zu beschreiben und umzusetzen. Zum einen geht es darum, Kontingenzen in den etablierten Wahrnehmungs- und Deutungsgewohnheiten zu erkennen und zu erkunden. So wird das reichhaltige Reservoir früherer Erfahrungen und daraus gewonnener Perspektiven und Fähigkeiten zu einem Resonanzraum für die Imagination und Gestaltung der Zukunft. Zum anderen nehmen wir die blinden Flecken und die Möglichkeiten in den Blick, welche in der Vergangenheit weder bedacht noch verwirklicht wurden. Deshalb wurde am Urner Institut im Frühjahr 2024 mit dem transversalen Thema Alpine Futures Literacy ein Denkraum geschaffen, der im Zusammenspiel mit den jeweils betriebenen Forschungs-, Vermittlungs- und Beratungsaktivitäten systematisch etabliert wird.
Spekulieren in Szenarien
Das aus der Zukunftsforschung stammende Konzept einer „Futures Literacy“ spielt insbesondere in den Aktivitäten der UNESCO eine zunehmend prominente Rolle. „Futures Literacy“ meint dabei „die Fähigkeit, die es den Menschen ermöglicht, die Rolle der Zukunft in ihrem Sehen und Handeln besser zu verstehen. Zukunftskompetenz regt die Vorstellungskraft an und verbessert unsere Fähigkeit, uns auf Veränderungen vorzubereiten, zu erholen und zu erfinden.“ (UNESCOii) Das am Institut Kulturen der Alpen leitende Verständnis einer Alpine Futures Literacy knüpft zwar am Ansatz der UNESCO an, geht aber über diesen hinaus: Alpine Futures Literacy bezieht nämlich die oben beschriebene „Korrespondenz“ mit der Vergangenheit und Gegenwart als wesentliches Element in die Programmatik ein und konfrontiert die Vorstellungskraft für das Künftige mit der Substanz des Vergangenen und den Dringlichkeiten der Gegenwart. Ziel ist es, Futures Literacy als organische Wechselwirkung zwischen historischen Pfadabhängigkeiten, transdisziplinärer Expertise und explorativer Imagination zu praktizieren. Dabei spielt nicht zuletzt auch die Einbeziehung künstlerische Denk- und Verfahrensweisen eine Rolle, die wesentliche Impulse für eine kritische Auseinandersetzung mit den Limitierungen der Vorstellungskraft durch Stereotype sowie das transformative Potenzial ästhetischer Praktiken beitragen kann.
Inkubator für Zukunftskeime
Der Arbeitsbereich „Alpine Futures Literacy“ knüpft an die etablierten Forschungsschwerpunkte und laufenden Projekte des Instituts an und erschliesst sie gezielt als Ressource für „Zukunftskeime“.iii Forschungsprojekte, die sich beispielsweise mit der Geschichte des Ausbaus der erneuerbaren Energien im Alpenraum befassen, werden als multiperspektivisches Archiv für die perspektivenorientierte Auseinandersetzung mit Konzepten einer künftigen Ästhetik alpiner Energiekulturlandschaften genutzt, bei der wiederum Expertisen aus dem Bereich künstlerischer Forschung und die Stakeholder der „Umsetzung“ einbezogen werden. Projekte, die sich mit der Geschichte des Skisports befassen, werden zu Impulsgebern für die Arbeit an der Frage, wie eine Zukunft des Wintersports im Kontext des Klimawandels aussehen könnte – und welche Bedarfslagen und Herausforderungen hier nicht nur mit Blick auf ökonomische Alternativen entstehen, sondern auch hinsichtlich des kulturellen Selbstverständnisses der Bevölkerung in durch Wintertourismus geprägten Regionen. Und, als weiteres Beispiel – Projekte, die sich mit demographischem Wandel und Abwanderung im Alpenraum beschäftigen, werden zum transdisziplinar verdichteten Wissensfundament für eine Debatten zu den potenziellen transformativen Effekten der Digitalisierung, konkret etwa am Beispiel von „Digitalen Nomaden“ als den „New Highlanders“ und Mitgestaltern einer künftigen alpinen Sozioökonomie.
Agilität als Programm
Der Arbeitsbereich „Alpine Futures Literacy“ ist als Zukunftslabor konzipiert, das sich dynamisch aus wechselnden, themenspezifisch gestalteten Projektzusammenhängen („Pop-up-Labs“) formiert. Dabei können die Impulse zur Einrichtung solcher Labs sowohl aus den Forschungs- und Vermittlungsaktivitäten des Instituts heraus als auch von aussen kommen. Die Leitung des Arbeitsbereichs ist als kuratorische Funktion angelegt, im Rahmen derer sowohl inhaltliche wie auch funktionale Schnittmengen zwischen den einzelnen behandelten Themenbereichen hergestellt und moderiert werden. Ein zentrales Anliegen dabei ist es, produktive Koppelungen und „Kurzschlüsse“ zwischen der am und vom Institut betriebenen Forschung, Vermittlung und Beratung herzustellen, indem die am Institut versammelten Wissenskulturen, Personen und der außerakademischen Öffentlichkeit in ein fruchtbares Zusammenspiel gebracht werden.
Ansprechpartner
Kuratiert wird der Arbeitsbereich „Alpine Futures Literacy“ von Jens Badura und Boris Previšić, Ansprechpartner ist Jens Badura (jens.badura@unilu.ch).
iVgl. dazu die Studie von Daniel Müller-Jentsch: www.avenir-suisse.ch/publication/zentrumstaeler/
iiwww.unesco.org/en/futures-literacy/about
iii „Zukunftskeime“ sind Möglichkeitsimpulse, die in den gängigen Wirklichkeitsbefunden und in den diese prägenden Wahrnehmungs- und Relevanzregimen ge- und zuweilen verborgene. Es sind Potenzialitäten, die unter entsprechenden Bedingungen aus dem vermeintlich Bekannten, Vertrauten oder Selbstverständlichen neue Sichtweisen entstehen lassen,: Bedingungen, unter denen ein kontrafaktisches Erproben ungewohnter Wahrnehmungs-, Kontextualisierungs- und/oder Verhandlungsweisen des jeweiligen Sachverhaltes oder Themenfeldes im explorativen Wechselspiel zwischen Faktizität und Fiktion erfolgen kann – zuweilen auch im Sinne eines aktiven „delearning“ mit Blick auf die Beschreibung und Deutung eines Sachverhalts.