Der im Kanton Uri aufgewachsene Filmemacher Fredi M. Murer realisierte in den Jahren 1973 und 1974 den Dokumentarfilm «Wir Bergler in den Bergen sind eigentlich nicht schuld, dass wir da sind». Dieser thematisiert das Leben der Urner Bergbevölkerung im Göscheneralptal, im Schächental, auf dem Urnerboden und im Maderanertal. Der Regisseur porträtiert einzelne Menschen und Familien, indem er sie in ihrem Alltag begleitet und ihnen das Wort gibt, um über Arbeit und Fortschritt zu reden.
«Die Aufnahmen sind einmalige Zeitdokumente»
Bei seinen Recherchen und Dreharbeiten in den Urner Bergen führte Murer daher viele Gespräche, die er auf Tonbänder aufnahm. Dadurch entstand umfangreiches Tonmaterial in Form von rund 160 Magnet-Tonbändern. Die Berglerinnen und Bergler erzählen über ihr Leben, Wirken, Hoffen und den Sorgen über die Zukunft im rauen Berggebiet. «Die Aufnahmen sind ein einmaliges Dokument einer sich rasch wandelnden Lebenswelt. Sie halten Stimmen aus Gesellschaftsschichten fest, die nirgendwo sonst dokumentiert sind. Das ist auch über den Kanton Uri hinaus bedeutsam», meint Romed Aschwanden, Geschäftsführer des Instituts «Kulturen der Alpen».
Fredi M. Murer hatte nur einen kleinen Teil dieser Aufnahmen für seinen Film verwendet und die Tonbänder ruhten seit knapp einem halben Jahrhundert in seinem Archiv. «Beim Hören dieser Aufnahmen erfährt man sehr viel über die damalige Lebenswirklichkeit der Bergbauern. Ihnen schenkte man in den 1970er-Jahren wenig Gehör», sagt Sophia Murer, die Tochter des Filmemachers. «Für meinem Vater und mich war es deshalb wichtig, diese seltenen Zeitdokumente zu erhalten, bevor sie altershalber nicht mehr abspielbar und für immer verloren sind.» Finanziell unterstützt durch die Dätwyler Stiftung, den Lotteriefonds des Kantons Uri und die Otto-Gamma-Stiftung, digitalisierten Sophia Murer und Paul Avondet, peakfein studio, diese wertvollen Tonaufnahmen.
In damalige Lebensrealitäten eintauchen
Bei der Digitalisierung kamen wahre Schätze an Lebenserinnerungen ans Tageslicht. Einen Teil der Aufnahmen hat Sophia Murer nun auf der eigens dafür geschaffenen Website «wirbergler.ch» für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Sie setzt den Hauptfokus bewusst auf die Tonaufnahmen mit den Berglerinnen und Berglern und verleiht ihnen somit das nötige Gehör. Die Erzählungen über den bäuerlichen Alltag, das Familienleben, die Arbeit auf dem Hof, die Ausbildung der Kinder und deren schwierige Aussichten einer Zukunft als Bergbauern, den Alpsommer, Lawinenwinter, Armenseelengeschichten, Betrufe und vielem mehr, sind übersichtlich nach Regionen geordnet.
Ergänzend und zusätzlich perspektivgebend finden sich auf der Webseite auch Interviews mit zeitgenössischen Stimmen, wie etwa jener des Kunstmalers und Schriftstellers Ludwig Lussmann und der Hebamme Babette Gisler-Arnold. Dazu gesellen sich Tonaufnahmen der Diskussionen an der Urner Korporationsgemeinde 1973, bei der es um die Einführung des Frauenstimmrechts auf Stufe Korporation ging.
«Allen Aufnahmen ist ein Fotoporträt angefügt, das die Protagonisten im Moment des Gespräches zeigt. Davon begleitet taucht man während dem Lauschen dieser authentischen und lebendigen Tondokumente in die damalige Lebensrealität der Berglerinnen und Bergler ein. Ob als Erinnerung an Personen und Orte, die man vielleicht kennt oder für Forschungszwecke; durch ihre Themenvielfaltalt sind diese Geschichten einzigartig und spannend für alle. Unabhängig wie alt man ist und ob man in den Bergen oder in der Stadt wohnt.»
Studierende analysieren Strukturwandel
Romed Aschwanden, Geschäftsführer des Instituts «Kulturen der Alpen», ist ebenfalls sehr erfreut über die wertvollen Forschungsmöglichkeiten, die sich durch diese Tonaufnahmen auftun. «Wir dürfen das Material als erste Forschungseinrichtung auswerten, das ist eine besondere Aufgabe und eine gewisse Ehre.» Insbesondere da die Dokumente genutzt werden können, um den Wandel in den 1970er-Jahren nachzuvollziehen. «Diese Jahre sind im Kontext des Nationalstrassenbaus, des Baus des Gotthardtunnels, aber auch der Agrarpolitik besonders einschneidend für den Kanton Uri.»
Zusammen mit Studierenden der Universität Luzern will sich das Institut nun aus historischer Perspektive dem Berggebiet der 1970er-Jahren annähern und sich intensiv mit dem Strukturwandel der Urner Berglandwirtschaft auseinandersetzen. Dazu ist eine Lehrveranstaltung im Frühjahrssemester 2022 geplant.
Hinweis
Die Tondokumente sind unter www.wirbergler.ch aufrufbar.