«Die schönsten Wochen im Jahr» sollen unvergesslich bleiben: ein schöner Ort, ein wunderbares Hotel, genussvolles, aber nicht zu ungewohntes Essen und Abstand von allem, was man sonst zu Hause tun muss. Die Alpen mit ihrer imposanten Bergwelt und Natur sind ein solcher Sehnsuchtsort, an dem Touristen sich temporär in ein vermeintliches Stück Paradies begeben können. Doch das Idyll hat Schattenseiten.
Am Donnerstag, 10. Februar 2022, näherte sich das Urner Institut «Kulturen der Alpen» der Thematik Alpentourismus mit der Präsentation des Buches «Berg and Breakfast» von Selma Mahlknecht und einem anschliessenden Podiumsgespräch an. «Unser Institut forscht zu kulturhistorischen, raumtheoretischen und ästhetischen Fragen rund um den Alpenraum», sagte Romed Aschwanden, Geschäftsführer des Instituts, bei der Begrüssung. «Der Tourismus tangiert dabei jede der drei Forschungsdimensionen. Tourismus ist daher eines der am kontroversesten diskutierten Themen der Gegenwart.»
Tourismusindustrie schafft Illusionen
Damit gab Aschwanden den Raum für die Podiumsdiskussion und deren Protagonisten frei. Selma Mahlknecht ist Schriftstellerin und Theaterfrau. Die Südtirolerin, die im Unterengadin lebt, las Ausschnitte aus ihrem Buch «Berg and Breakfast». An der anschliessenden Diskussion nahmen weiter teil: Dr. Valentin Groebner, Professor für Geschichte an der Universität Luzern, mit Forschungsschwerpunkt Tourismusgeschichte sowie Dr. Kurt Gritsch, Lehrbeauftragter an der Universität Luzern, der aktuell die touristisch bedingte Arbeitsmigration im Alpenraum vom 19. Jahrhundert bis zum Ende des Ersten Weltkriegs erforscht.
Im ersten Teil prägten die Schattenseiten des Tourismus das Gespräch. «Tourismus ist eine Industrie, die von sich behauptet, genau das Gegenteil einer Industrie zu sein», lancierte Valentin Groebner die Diskussion. Eine milliardenschwere Industrie, die es verstehe, die perfekte Urlaubsillusion zu schaffen. Die aber auch auf einem Paradox beruhe: die Erzählung des Schönen, verbunden mit der Erzählung des Verschwindens des Schönen. Nach dem Motto: Fahrt hin, so lange es dort noch schön ist.
Die Idylle hat Schattenseiten
Selma Mahlknecht demontierte in ihrer Lesung nach und nach die Illusion des paradiesischen Bildes vom rustikalen Chalet im alpinen Chic mit gemütlichen Cheminéefeuer und atemberaubenden Panoramablick vor dem inneren Auge der Zuhörenden. Denn die Realität sei eine andere. Land werde an ausländische Investoren verkauft, die mit Hotels und Chalets beschränkte Wohnräume schaffen, die nur wenige Monate im Jahr belebt seien. So werde ganzjähriger Wohnraum kaum mehr erschwinglich. Das Leben in solchen Gebieten sei einzig auf den Tourismus und nicht mehr auf ein «normales» Miteinander ausgerichtet. Weder die lokale Bäckerei noch der Metzgerei würden vom All-inclusive-Paket der Hotels für ihre Touristen profitieren.
Auch auf Naturschutz kam sie zu sprechen. Im Gegenzug zu den intensiv genutzten Gebieten liesse man andere Landstriche im natürlichen Zustand und schaffe dort vermeintliche Schon- und Rückzugsorte für die Natur. Dem widerspräche, dass der Schutz der Natur nicht im Sinne der gewinnorientierten Investoren sei und die Touristen tatsächlich auch Natur erleben wollten. So werde das Konzept der menschenleeren Naturschutzzone nach und nach unterwandert, sagte Mahlknecht.
«Mehr Tourismus bedeutet mehr Migration», fügte Kurt Gritsch hinzu. Die Tourismusindustrie schaffe Stellen, was die Arbeitsmigration fördere. Einheimische würden wiederum abwandern, weil sie keine Arbeit und keine Wohnung finden würden. «Können wir uns somit einen Tourismus leisten, von dem nur wenige profitieren?», fragte er.
Wie lässt sich Nachhaltigkeit definieren?
Im zweiten Teil stand die Diskussion allen Anwesenden offen. Das Plenum war sich einig, dass gerade die Covid-19-Pandemie Möglichkeit bietet, anders über Tourismus nachzudenken. Befreit von der Maxime «es muss immer alles mehr werden, weil immer alles mehr geworden ist», wie Valentin Groebner feststellte. Oder wie Selma Mahlknecht mit einer Buchpassage unterstrich: «Die Welt könnte so schön sein, wenn sie nicht überall von Touristen verschandelt würde.»
Die Suche nach neuen Möglichkeiten im Tourismus blieb an diesem Abend eine schwierige. Zumal es für Nachhaltigkeit im Tourismus keine allgemeingültige Definition gibt. Im Plenum wurde Verschiedenes andiskutiert. Würden Angebote, um Einheimischen die Region als Ferienort schmackhaft zu machen, helfen – ganz nach der Devise «Ferien daheim»? Wäre Qualitätstourismus anstatt Massentourismus eine Möglichkeit für nachhaltigen Tourismus, wie das Selma Mahlknecht in ihrem Buch überlegt? Anstatt Billigflüge auf die Malediven also nur noch Qualitätsangebot und Qualitätstourist? Was wiederum hiesse, dass sich nur noch Ferien leisten könnte, wer Geld habe. Das Ungleichgewicht jedoch bleibe bestehen: Die Besuchten versuchen die von der Tourismusindustrie geschaffenen Illusionen der Besucher um jeden Preis zu verwirklichen
Am Schluss ist alles eine Frage des Masses
Ebenso stand die Frage im Raum, wie Uri mit Nachhaltigkeit im Tourismus umgehen solle. So wurde diskutiert, ob nicht die Gefahr bestehe, dass die entstandene Attraktivität des Nachhaltigen nicht paradoxerweise die Touristenmassen anlocke und die Natur gefährde. Romed Aschwanden brachte es abschliessend auf den Punkt: «Die Kernfrage bleibt diejenige nach dem richtigen Mass aller Involvierten. Sie entscheiden, inwieweit Tourismus soziale, ökologische und ökonomische Sphären beeinflussen darf.»