Was von den Gletschern übrig bleibt

Die Referierenden des Abends; von links: Prof. Dr. Boris Previšić, MA Veronika Studer-Kovàcs, Dr. Michael Bütler sowie Prof. em. Dr. Wilfried Haeberli gemeinsam mit ihren Gastgebern Prof. Dr. Roland Norer und Dr. Romed Aschwanden.

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An einer Veranstaltung beleuchtete das Institut das Thema Gletscher aus ganz unterschiedlichen Perspektiven.

Seit Menschengedenken prägen sie Landschaft, Menschen und Kultur: die Gletscher. Ob als Postkartensujet, als Tourismusziel, Sportattraktion oder als Gegenstand in Wort und Bild, etwas fasziniert die Menschen an diesem immer dagewesenen und real erlebbaren Archiv der Erdgeschichte. Der durch Menschenhand beschleunigte Klimawandel sorgt dafür, dass das ewige Eis schon Ende dieses Jahrhunderts an vielen Orten der Welt Vergangenheit sein wird.

Was tun, damit sich die Alpenfirne nicht nur mehr im Schweizer Psalm, sondern auch in der Natur weiterhin röten dürfen? Welche Herausforderungen, Chancen und Risiken birgt das, was vom Gletscher übrigbleibt? Kann dieses «Neuentstandene» ebenso faszinieren? Das Urner Institut «Kulturen der Alpen» der Universität Luzern hat diese Entwicklung im Rahmen einer Abendveranstaltung am vergangenen Montag aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet. Institutsleitungsmitglied Prof. Dr. Roland Norer begrüsste dazu rund vierzig Personen im Uristier-Saal in Altdorf.

Alpengletscher leiden besonders

Den Anfang machte Prof. em. Dr. Wilfried Haeberli vom Geographischen Institut an der Universität Zürich. In seinem Referat «Gletscher in beschleunigendem Rückzug, naturwissenschaftliche Aspekte», visualisierte er anhand von Bildern und Zahlen eindrücklich, wie massiv die Gletscher durch den Klimawandel in den vergangenen Jahren geschwunden sind – insbesondere die Alpengletscher.

«Wenn wir keinen Einhalt gebieten, werden bis Ende dieses Jahrhunderts in den Alpen und weltweit nur noch kleine Gletscherreste vorhanden sein», sagte der Referent. Haeberli erklärte, wie sich mittels Satellitenbildern, Modellrechnungen und digitalen Modellen Szenarien für die Folgen des Gletscherschwunds simulieren lassen. «Ebenso verändern sich in diesen Gebieten die Naturrisiken. Diese gilt es zu beobachten und neu zu beurteilen. Nicht alle Gefahren sind sichtbar», warnte er. Beispielsweise können sich Gesteine, die bisher durch das Gletschereis stabilisiert wurden, lockern und herunterstürzen. Oder: Das geschmolzene Eis bildet neue Gebirgsseen, wodurch Flutwellen und Hochwassergefahr entstehen können.

Haeberli sieht jedoch auch Chancen, etwa in der Energiegewinnung durch Wasserkraft, in Form neuer Frischwasserreserven und Tourismusattraktionen. Es seien multiple Interessen und Konflikte, die entstünden, und die es in naher Zukunft abzuwägen gelte. Das Resümee des Wissenschaftlers: «Der Wandel ist schnell. Die Aufgabe der Wissenschaft ist es, die zukünftige Entwicklung zu modellieren und diese der Politik als Entscheidungsgrundlage zur Verfügung zu stellen.»

Kulturwissenschaftliches Intermezzo

Mit einem anderen Ansatz führten Prof. Dr. Boris Previšić, Direktor des Instituts und Veronika Studer-Kovàcs das Publikum an die Gletscher heran. Die beiden Kulturwissenschaftler referierten darüber, welche Eigenschaften und Rollen den Gletschern in unserer jüngsten Kulturgeschichte zugeschrieben wird.

Als «freudvoller Schrecken», als Gegenstand, der das Gefühl des Betrachters zurück auf den Gegenstand spiegelt, als eine Art Lebewesen, das hustet und kracht oder als Archiv der Weltgeschichte, das die Vergangenheit in der Zukunft vergegenwärtigt – Gletscher sind gleichermassen Gegenstand in Erzählungen und Betrachtungen von Naturforschern, Philosophen oder zeitgenössischen Musikern wie Dodo.  

Wem gehören die Gletscher?

Wohl wenige stellen sich diese Frage, anders Dr. Michael Bütler: Der einzige Schweizer Glazialjurist befasst sich mit Rechtsverhältnissen an Gletschern und Rechtsfragen um den Schutz von Gletschern und vor Gletschergefahren. «So definiert das Zivilgesetzbuch Gletscher und Firne nicht genau, jedoch als kulturunfähiges, nichtnutzbares und herrenloses Land», erklärte er. Eigentümer seien die Kantone, auf deren Hoheitsgebiet sich die Gletscher befänden.

Bütler zeigte auf, dass sich daraus ein breites Spektrum an Rechtsfragen und -fällen ergeben kann. Etwa wenn bei Grundbuchvermessungen die Abgrenzung von kulturfähigem und kulturunfähigem Land zur Diskussion steht. Oder im Fall des Rhonegletschers, der aufgrund alter Rechte zum Sonderfall wurde und heute noch als Ausnahme Privateigentum ist.

Auch zu Rechtsfragen rund um den Schutz vor Gletschergefahren und den Schutz der Gletscher hatte er einiges zu sagen. Wer trägt die Verantwortung, wenn bei einem Gletscherabbruch Menschen ums Leben kommen? Wie weit soll die touristische Nutzung mit Bergbahnen, Heliskiing etc. gehen können? «Durch den Klimawandel werden neue Gletscherseen entstehen, die sich hauptsächlich in geschützten Gebieten befinden. Dadurch ergeben sich Zielkonflikte zwischen Nutzung und Erhaltung von Hochgebirgslandschaften», so der Jurist. «Die Frage ist, wann sind wir mit wirksamen Massnahmen bereit zu handeln?»

Ein Rucksack voller Eindrücke

Dr. Romed Aschwanden, Geschäftsführer des Instituts, setzte den Schlusspunkt der Veranstaltung und moderierte die anschliessende Fragerunde. «Auch wenn die Gletscher verschwinden, sie bleiben faszinierend und unfassbar. Ich nehme einen riesigen Rucksack an Eindrücken mit nach Hause.»