Winzige Kristallsplitter erzählen Geschichte

Marcel Cornelissen (Bild Valentin Luthiger)

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Bereits vor rund 10'000 Jahren suchten Menschen nach Kristallen. Archäologe Marcel Cornelissen präsentierte am Montagabend Erkenntnisse des Forschungsprojekts «Bergeis».

Funde aus dem Urner Maderanertal belegen, dass Menschen bereits vor rund 10'000 Jahren Kristalle gesucht hatten – also kurz nach der letzten Eiszeit und lange bevor Menschen auf dem Gebiet der heutigen Schweiz überhaupt Landwirtschaft betrieben oder Pfahlbauten erstellt haben. Die im Jahr 2013 entdeckten Artefakte in einer Kristallkluft bei der Unteren Stremlücke auf 2800 Meter über Meer, am Übergang vom Maderanertal in die Surselva, sind somit die ältesten Spuren menschlicher Existenz im Kanton Uri.

Seit einigen Jahren wird die Fundstelle bei der Unteren Stremlücke im Rahmen des Projekts «Bergeis. Strahlen und Bergkristall in der Steinzeit» wissenschaftlich untersucht und ausgewertet. Federführend sind dabei das Urner Institut «Kulturen der Alpen» an der Universität Luzern und die Abteilung Denkmalpflege und Archäologie des Kantons Uri. Am Montagabend, 19. September 2022, gab Projektleiter und Gletscherarchäologe Marcel Cornelissen im Historischen Museum Uri in Altdorf einen Einblick in seine Arbeit und präsentierte Erkenntnisse seiner Forschung. Rund 40 Personen folgten seinen Ausführungen.

Ötzi ist viel jünger als die Funde am Brunnifirn

Die Gletscher in den Alpen schmelzen derzeit in rasantem Tempo. Dabei legen sie Orte frei, die während Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden unter dem Eis lagen. Im Jahr 2013 stiess ein Strahler in einer Kristallkluft am Brunnifirn zuhinterst im Maderanertal auf Kristallscherben, ein Hirschgeweih und Holzfragmente. Schnell war klar: In dieser Kluft musste schon einmal jemand nach Kristallen gesucht haben – bevor der Gletscher alles überdeckt hatte. Die Geweihstange könnte dabei als Werkzeug verwendet worden sein.

Der Muotathaler Höhlenforscher Walter Imhof nahm eine erste Datierung der Geweihstange vor. Seine Analyse ergab, dass diese rund 8000 Jahre alt ist und wohl während Jahrtausenden im Eis luftdicht konserviert überdauert hat. «Ein so alter Fund mitten im Hochgebirge auf über 2800 Meter über Meer; das hat uns überrascht», sagte Archäologe Marcel Cornelissen am Montagabend. Zum Vergleich: Die Gletschermumie Ötzi ist fast 3000 Jahren jünger.

Tagelange Fleissarbeit am Mikroskop

Ein kleines Forschungsteam untersuchte im Herbst 2017 die Fundstelle im Auftrag des Archäologischen Dienstes des Kantons Graubünden. «Wir hatten lediglich einen einzigen Tag Zeit», erinnert sich Cornelissen. «Wir sahen aber schnell, dass wir hier noch mehr finden werden und wir die Fundstelle daher genauer analysieren sollten.»

Im Spätsommer 2020 führte die Abteilung Denkmalpflege und Archäologie des Kantons Uri schliesslich eine grössere Grabung durch. «Auf organisches Material und eine allfällige Feuerstelle sind wir leider nicht gestossen», sagt Marcel Cornelissen. Sein Team nahm drei Grabungsschnitte vor, packte rund 1000 Kilogramm Schuttmaterial in Säcke und flog diese mit dem Helikopter ins Tal. In der Werkstatt wurde das Material gesiebt, so dass 37 Kisten voller Kristallsplitter übrigblieben. Marcel Cornelissen ist nun in monatelanger Fleissarbeit daran, die Splitter mit dem Mikroskop genau zu untersuchen – Kristallsplitter um Kristallsplitter. «Die Mühe hat sich aber bereits gelohnt», sagt der Gletscherarchäologe. «Die Splitter erzählen uns die Geschichte.»

Die Menschen waren in der Mittelsteinzeit äusserst mobil

Der Projektleiter Marcel Cornelissen fand unter den Kristallsplitter eine Vielzahl von winzigen Werkzeugen, die aus den Bergkristallen gefertigt worden sind: Bohrer, Messer, Schaber oder Pfeilspitzen. Die meisten sind kaum grösser als 2 Zentimeter. Zudem fand das Forschungsteam heraus, dass die Strahler der Mittelsteinzeit die Kluft während zwei Phasen aufgesucht hatten: um 7000/8000 und um 5800 vor Christus. Wie die Menschen damals aber an der Abbaustelle gearbeitet haben, wie sie gelebt haben und wie viele sie waren, darüber kann nur spekuliert werden.

Fakt ist aber: Bergkristalle waren in der Mittelsteinzeit wichtige Rohstoffe für die Herstellung von Werkzeugen mit scharfen Klingen. Das belegen andere Funde im ganzen Alpenraum. Die Jäger und Sammler der Mittelsteinzeit mussten also zwischen 9500 und 5500 vor Christus weite Teile des Alpenraums durchstreift haben. In den vergangenen Jahrzehnten fanden Archäologen auch an anderen Orten im Gotthardraum Spuren, die auf die Kristallverarbeitung während der Mittelsteinzeit hindeuten – so etwa in Hospental und in Airolo. «Die Kristallkluft am Brunnifirn war nur einer von vielen Aufenthaltsorten dieser mobilen Gemeinschaft», so Cornelissen.

Talmuseum Ursern zeigt Sonderausstellung

Das Projekt «Bergeis. Strahlen und Bergkristall in der Steinzeit» des Instituts «Kulturen der Alpen» und der Abteilung Denkmalpflege und Archäologie des Kantons Uri, das in Zusammenarbeit mit dem Kanton Wallis durchgeführt wird. Soll demnächst seinen Abschluss finden. Die Projektverantwortlichen planen, die Erkenntnisse der Forschung einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Ab dem 16. Dezember 2022 zeigt das Talmuseum Ursern in Andermatt dazu eine Sonderausstellung.

 

 

Archäologen sind auf Bergsteiger angewiesen

Die schmelzenden Gletscher geben immer wieder Spuren der Vergangenheit preis. Um diese klimatisch bedrohten Funde sicherzustellen, sind Forschende auf die Unterstützung von Berggängerinnen und Berggänger angewiesen: Sie werden angehalten, mögliche Fundgegenstände zu fotografieren, zu markieren und den genauen Standort (mit Koordinaten) den entsprechenden archäologischen Fachstellen oder Behörden mitzuteilen. Für archäologische Funde ist der Kanton zuständig, auf dessen Boden sie gefunden wurden. Funde sollten nur dann mitgenommen werden, wenn sie unmittelbar bedroht sind oder der Ort nicht wiedergefunden werden kann. Die Kontaktdaten der zuständigen Fachstellen findet man online unter www.archaelogie.ch oder www.alparch.ch. Für Uri befindet sich der Kontakt unter www.ur.ch/dienstleistungen/3429.